Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Wohungslose – offener Brief an die Stadtverwaltung Tübingen

Das Pandemiegeschehen und die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung stellt von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen auch in Tübingen vor große Probleme:

Nach bisherigen Erfahrungen trifft die Corona-Pandemie Menschen mit geringen oder ohne Ressourcen – Geld, Wohnraum, soziale Netzwerke – besonders schwer. Durch die Maßnahmen sind Einnahmen durch Flaschensammeln, Gelegenheitsjobs oder Betteln und viele Hilfs- und Unterstützungsangebote weggebrochen oder haben sich stark verringert.Von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen leben oft in Szenen, die Familien-Ersatz für sie sind. Die Zwei-Haushalte-Regel geht an ihrer Lebensrealität vorbei.Auch die Ausgangssperre nach 20 Uhr ist für Menschen ohne Wohnung kaum einzuhalten. Des Weiteren gehören viele von Wohnungslosigkeit betroffene Personen durch Vorerkrankungen oder durch das Leben auf der Straße zur Risikogruppe. Letzteres bedingt oft eine unzulängliche Ernährung und Körperhygiene, chronischen Stress, sowie nicht auskurierte Krankheiten oder Suchtkrankheiten.

Diese verschärften Probleme bestehen seit Beginn der Corona-Pandemie. Schon im Frühjahr waren Kommunen aufgefordert zu prüfen, inwiefern vorübergehend leere Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen sowie dauerhaft leerstehende Wohnungen von Menschen ohne Wohnung genutzt werden könnten. Ein Offener Brief von über zwanzig Tübinger Initiativen und Organisationen bat bereits im April 2020 darum, diese Optionen auszuloten.Die Stadtverwaltung Tübingen betonte damals lediglich, dass ausreichend Unterkünfte zur Verfügung stünden.

Jetzt im Winter, bei steigenden Corona-Fallzahlen und hartem Lockdown, erleben wir als Tübinger Wohnprojekte eine Zuspitzung der Situation. Regelmäßig suchen wohnungslose Menschen bei uns Schlafplätze, oft über mehrere Nächte in Folge. Aufgrund dieser Erfahrungen können wir uns den zuversichtlichen Einschätzungen der Stadtverwaltung und der Tübinger Wohnungslosenhilfe zur Situation in Tübingen leider nicht anschließen.
Uns stellt diese Situation vor große Herausforderungen. Wir können Unterkünfte allenfalls behelfsmäßig anbieten – auf Dauer sind die Schlafplätze und Aufenthaltsmöglichkeiten bei uns weder sicher noch angemessen. Auch reichen unsere Kapazitäten schlicht nicht aus. Hinzu kommt, dass eine Kontaktnachverfolgung, die wir innerhalb unserer Projekte im Falle einer auftretender Coronainfektion anstreben, nicht möglich ist.

Gleichzeitig möchten wir als Projekte mit sozialem Anspruch Menschen in der kalten Jahreszeit und bei einer bestehenden Ausgangssperre nicht abweisen, ohne sie auf Möglichkeiten einer anderen Unterbringung verweisen zu können.In der Regel kennen von Wohnungslosigkeit betroffene Personen die Angebote der Kommune, die Notübernachtung für Männer in der Eberhardstraße 53 und die für Frauen in der Stuttgarter Straße 24.  Bei uns übernachten jedoch regelmäßig wohnungslose Menschen, die die bestehenden Angebote der Kommune nicht wahrnehmen wollen oder wahrnehmen können. Laut eines Experten, den wir befragt haben, gibt es dafür vielfältige Gründe. So gibt es in der Männer-Notübernachtung in der Eberhardstraße 53 nur von 18 bis 22 Uhr die Möglichkeit aufgenommen zu werden. Durch die Ausgangssperre wird diese Zeit auf die zwei Stunden zwischen 18 und 20 Uhr verkürzt. Trotz der Ausgangssperre wollen viele Wohnungslose als erwachsene Menschen noch nicht um 20 Uhr zu Bett gehen. Auch für Menschen mit unsicherem/ohne Aufenthaltsstatus oder mit Hunden sind Notübernachtungen kaum eine reale Option. Barrierefrei sind die Räumlichkeiten der Notübernachtung auch nicht.Allgemein haben Notübernachtungen bei vielen von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen keinen guten Ruf. Abschreckend sind die Unterbringung in Mehrbettzimmern und dadurch fehlende Privatsphäre, der Zwang, die Räume tagsüber zu verlassen und allgemein eine begrenzte Aufenthaltsdauer für diejenigen, die sich nicht der anstrengenden Prozedur der Re-Integration (Therapie, Arbeitsamt, etc.) unterwerfen wollen oder können, z.B. auf Grund einer Suchtmittelabhängigkeit. Die Angst vor einer Ansteckung mag eine zusätzliche Rolle spielen. So ist die Notübernachtung nur für einen Teil der von Wohnungslosigkeit betroffenen Personen eine reale Option.

Wir fordern die Stadtverwaltung Tübingen daher mit Nachdruck erneut auf, geeignete Angebote zu schaffen. Eine Möglichkeit wäre, erneut und ernsthaft zu prüfen, inwiefern von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen eine Unterbringung in Leerstand, Ferienwohung oder Hotels angeboten werden kann, in denen die notwendigen Hygienestandards und die geltenden Auflagen eingehalten werden können. Zentral wäre dabei, dass diese Unterkünfte unkompliziert zur Verfügung gestellt werden und schnell gehandelt wird. In anderen Städten geschieht dies bereits: In Düsseldorf, Berlin und London werden von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen in Hotels untergebracht, um ihnen damit einen besseren Schutz vor einer Corona-Infektion zu bieten. Auch in Stuttgart und Hannover fordern soziale Initiativen und Fraktionen im Gemeinderat eine solidarische Unterbringung.

Darüber hinaus muss die Stadt Tübingen dafür Sorge tragen, dass den von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen auch tagsüber geeignete Aufenthalträume bereitgestellt werden. Da auch Einrichtungen mit frei zugänglichen Sanitäranlagen geschlossen sind, fordern wir weiterhin, die Sanitäranlagen von ohnehin geschlossenenen Schwimmbädern für von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen zu öffnen. Hier empfiehlt sich auf Grund der zentralen Lage das Uhland-Bad.

Wohnen ist ein Menschenrecht, und wir fordern seine Umsetzung. Menschen ohne Wohnung muss ohne Vorbedingungen ausreichend Wohnraum zur Verfügung gestellt werden. Ein wirksamer Ansatz ist „Housing first“. Hier müssen von Wohnungslosigkeit Betroffene sich nicht erst für eine eigene Wohnung qualifizieren: Abstinenz von Suchtmitteln oder eine Teilnahme an psychosozialen Therapieprogrammen ist keine Voraussetzung. Stattdessen ist eine sichere, eigene Wohnung der erste Schritt. Therapie-  und Unterstützungsangebote stehen jederzeit zur Verfügung, insbesondere nach dem Einzug in die eigene Wohnung, die Teilnahme daran ist freiwillig. Dieses Konzept unterscheidet sich stark vom herkömmlichen Ansatz der „Wohnfähigkeit“, wo die Probleme, die Menschen in die Wohnungslosigkeit geführt haben, behoben sein müssen, ehe wieder eine eigene Wohnung bezogen werden kann. Mit dem Einzug endet oftmals die Unterstützung. Von Betroffenen wird also verlangt, dass sie sich psychisch und finanziell stabilisieren, während sie höchst instabil leben müssen zwischen Tagesbetreuung und Notunterkunft.Dass es andersherum besser funktioniert leuchtet nicht nur ein, sondern ist inzwischen vielfach bestätigt. Mit „Housing first“ werden in mehreren europäischen Ländern gute Ergebnisse bei der dauerhaften Bekämpfung von Wohnungslosigkeit erzielt, bei gleichzeitiger Senkung der Kosten.Wir schlagen vor, dass „Housing first“ auch in Tübingen zur langfristigen Bekämpfung von Wohnungslosigkeit eingesetzt wird.

Dass es andersherum besser funktioniert leuchtet nicht nur ein, sondern ist inzwischen vielfach bestätigt. Mit „Housing first“ werden in mehreren europäischen Ländern gute Ergebnisse bei der dauerhaften Bekämpfung von Wohnungslosigkeit erzielt, bei gleichzeitiger Senkung der Kosten.Wir schlagen vor, dass „Housing first“ auch in Tübingen zur langfristigen Bekämpfung von Wohnungslosigkeit eingesetzt wird.

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